Gastbeitrag von Friederike Meyer-Hamme
Elternsein ist eine große Herausforderung. Oft haben wir genaue Vorstellungen davon, wie wir als Eltern sein wollen, und die meisten von uns erleben immer wieder Momente, in denen wir ganz anders agieren, als wir es uns wünschen. Oft gehen wir anschließend sehr hart mit uns ins Gericht. Uns kommt der Gedanke, eine schlechte Mutter oder ein schlechter Vater zu sein. Nicht selten entwickeln wir Schuld- und Schamgefühle. Damit entgeht uns aber die Möglichkeit zu wachsen, denn Scham und Schuld lähmen uns und berauben uns der Möglichkeit, nach Lösungen zu suchen und uns die Situation genauer anzusehen.
Liebevoll und in gutem Kontakt mit uns selbst? Fehlanzeige! Dabei ist das doch genau das, was wir uns von uns als Elternteil gegenüber unseren Kindern wünschen – einen gleichwürdigen Dialog auf Augenhöhe. Zu erkennen, dass jedes Verhalten einen Grund hat und wir Menschen zu jedem Zeitpunkt unser Bestes geben, birgt die Chance, an schwierigen Situationen innerlich zu wachsen. Es geht also ums Hinschauen: „Wie geht es mir gerade, was für Gefühle nehme ich wahr, welche Bedürfnisse habe ich?“
Wie geht es dir – und mir?
Viele Eltern heute haben es schlichtweg nicht gelernt, sich ihrer Bedürfnisse bewusst zu werden, und sind stattdessen dazu erzogen worden, sich Autoritäten zu unterwerfen und ihnen zu gehorchen. Und so sitzen wir dann vor unserem Kind und/oder im inneren Dialog mit uns selbst da und spielen das alte Spiel weiter: „Wie konntest du nur? Schau, was du angerichtet hast“ anstelle von „Was ist los, wie geht es dir, was brauchst du?“
Sobald wir nämlich unsicher werden, greifen wir reflexartig auf Gelerntes und Bekanntes zurück. Das ist ganz menschlich, nur manchmal ist Bekanntes und Gelerntes leider das komplette Gegenteil von dem, was wir uns für den Umgang mit unseren Kindern wünschen. Jesper Juul schrieb einmal: „Betrachten Sie Ihre Familie als neues Projekt, dessen einzelne Teilnehmer nicht von vornherein bestens qualifiziert sind.“ Dieses Zitat ist sehr hilfreich, da es uns Eltern aufzeigt, dass Familie ein Raum für Entwicklung ist, ein Ort, an dem wir aneinander wachsen und voneinander lernen können.
„Betrachten Sie Ihre Familie als neues Projekt, dessen einzelne Teilnehmer nicht von vornherein bestens qualifiziert sind.“
Und zur Entwicklung gehören Fehler – immer. Seien wir also geduldig und liebevoll mit uns: Du hast also dein Kind angeschrien, weil es sich nicht die Zähne putzen wollte?
Schau hin ohne zu werten: „Wie fühlst du dich gerade und was brauchst du jetzt?“ Falls es schwierig für dich ist, die eigenen Gefühle zu benennen, ist es hilfreich, zunächst über den Körper zu gehen. Was spürst du? Spürst du Verspannungen, wie geht dein Atem? Nimm es einfach nur wahr. Es kann sein, dass du feststellst, dass hinter deiner Wut und dem Ärger Erschöpfung und/oder Traurigkeit liegen.
Vielleicht merken wir so, dass wir seit Tagen unausgeschlafen, nonstop um die Bedürfnisse anderer gekreist sind und uns selbst darüber vergessen haben. Und ja, das erschöpft, und nein, ich sollte das nicht so fortführen, denn das Beste, was Eltern für ihre Kinder tun können, ist, sich gut um sich selbst zu kümmern.
"Das Beste, was Eltern für ihre Kinder tun können, ist, sich gut um sich selbst zu kümmern."
Anschauen und annehmen
Auch alte Verletzungen, Prägungen, Glaubenssätze und Muster bahnen sich immer wieder ihren Weg, bis wir sie angeschaut und angenommen haben. War es uns beispielsweise als Kind nicht erlaubt, wütend zu sein, wird uns die liebevolle Begleitung unserer wütenden Kinder sicher nicht leichtfallen und uns sehr herausfordern. Haben wir als Kind Sätze gehört wie „Du solltest dich schämen, deinetwegen ist...“, dann ist es kein Wunder, dass es uns schwerfällt, das Muster aus Schuld und Scham zu erkennen und zu durchbrechen. Und genau das ist die Krux, warum in meinen Augen beziehungsorientierte Elternschaft nicht ohne Selbsterfahrung auskommt. Wir können noch so viele Jesper Juul-Bücher und beziehungsorientierte Blogs verschlingen – all unsere Erfahrungen sind in uns gespeichert, und unsere Kinder holen die besten sowie die schlechtesten Seiten aus uns Eltern heraus.
Dies als Wachstumsgeschenk anzuerkennen, immer wieder innezuhalten, hinzuschauen und zu fühlen – uns also mit all unseren Stärken und Schwächen kennenzulernen – lässt uns wachsen und Schritt für Schritt destruktive Verhaltensmuster verändern. Nein, das ist nicht leicht, es ist sogar manchmal verdammt schwer und tut weh. Veränderung braucht Kraft.
Es ist ein Prozess, euch euren Bedürfnissen, Verletzungen und Gefühlen bewusst zu werden und zu verstehen, warum ihr euch manchmal so ganz anders verhaltet, als ihr es euch wünscht. Solltet ihr feststellen, dass aufkommende Gefühle für euch kaum auszuhalten sind und/oder euch Schuld- und Schamgefühle lähmen, solltet ihr euch nicht vor professioneller Hilfe scheuen. Manchmal braucht man jemanden an seiner Seite, um sich den schwierigen Gefühlen, Verletzungen und Prägungen zuwenden zu können. In jedem Falle aber gilt: Seid liebevoll, geduldig und freundlich mit euch selbst!
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Über die Autorin:
Friederike Meyer-Hamme ist familyLab Familienberaterin, Heilpraktikerin für Psychotherapie und systemische Familientherapeutin.
Dieser Artikel erschien zuerst in der Zeitschrift "Mit Kindern wachsen" vom Arbor Verlag.
Bildquelle: Lizenzfreie Stockfoto-Nummer: 83739313 von Ruslan Huzau.
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